Es ist aufregend, einen Ort zu erleben, der seinen zweiten Frühling erfährt

Maximilian Semsch
Maximilian Semsch ist seit 15 Jahren mit dem Fahrrad in der ganzen Welt unterwegs. Der 36-jährige Münchner bereiste bisher knapp 40 Länder und verdient mit Vorträgen über die Touren seinen Lebensunterhalt. Kein Ort überraschte ihn bisher so sehr wie Brandenburg an der Havel.   

Lesezeit: 14 Min.

Maximilian, du bist im Sommer 2018 von München nach Brandenburg an der Havel gezogen. Was verschlägt einen Globetrotter wie dich in die Provinz?

Ich bin 2016 durch alle 16 Bundesländer geradelt und hatte die Tour dafür genutzt, um zu schauen, wo es sich ganz gut leben lässt. Die Tour führte mich durch die Stadt Brandenburg – und ich fand es hier ganz nett. Ich hatte mir damals ein Hausboot für einen Tag gemietet, war auf den Seen unterwegs und fand die Gegend dann noch viel netter. Zuvor hatte ich gemeinsam mit meiner Frau eine Liste mit all dem erstellt, was unser neues Zuhause bieten sollte.

 

Wie sah diese Liste aus?

Wir wollten nicht wieder in einer Millionenmetropole, aber auch nicht auf dem Dorf leben, wo jeder jeden kennt und der Nachbar kontrolliert, ob man seinen Rasen regelmäßig mäht. Dieser Schritt wäre für uns Großstädter zu krass gewesen. Die Gegend hier fanden wir super. Uns war es wichtig, zentral in Deutschland zu leben, denn ich bin ja viel unterwegs. Die Stadt Brandenburg hat einen perfekten Verkehrsanschluss. Schlussendlich habe ich die hiesigen Mietpreise recherchiert. Der Unterschied zu den Münchner Preisen hat uns dann überzeugt.

Deine Freunde und Familie leben in München. Wie war es, diese zurückzulassen?

Meine Freunde und Familie sehe ich jetzt sogar öfter als vorher. Als ich noch dort lebte, haben wir Treffen auch gern mal auf ein anderes Wochenende verschoben. Wenn ich jetzt beruflich in München bin, dann muss das mit dem Treffen in einem kleinen Zeitfenster klappen. Und es funktioniert.

 

Du bist von München mit dem Fahrrad nach Singapur gefahren, hast Australien umrundet und alle Bundesländer Deutschlands durchradelt. Warum macht man so etwas?

Das Reisen begann ich 2004, direkt nach dem Abitur. Ich hatte mir vorgenommen, ein Jahr unterwegs zu sein. Als ich merkte, dass so ein Vorhaben – wenn man es richtig anstellt – gar nicht so teuer ist, wurden aus dem einen Jahr drei. Ich habe nicht studiert, keine abgeschlossene Ausbildung und stand mit Mitte 20 vor der Entscheidung: Was machst du jetzt mit deinem Leben? Wenn es nach meiner Oma gegangen wäre, natürlich etwas Vernünftiges, aber ich habe das Reisen zu meinem Beruf gemacht (lacht).

 

Bist du auf deinen Reisen von Anfang an mit dem Fahrrad unterwegs gewesen?

Auf der ersten Reise nutzte ich noch Bus und Bahn. Das fand ich jedoch schnell langweilig. An allem bin ich nur vorbeigerast. Also suchte ich nach einem kostengünstigen Verkehrsmittel, das mich individuell von A nach B bringt. So kam ich zum Fahrrad als Reisegefährt. Und war vom ersten Tag an begeistert. Man lernt Land und Leute ganz anders kennen. Man erlebt alles intensiver, im Gegensatz zum Reisen mit dem Flugzeug oder dem Zug.

 

Je exotischer das Land und je weniger Touristen, desto größer ist die Neugier der Menschen.

 

Was macht für dich das Reisen mit dem Fahrrad aus?

Man erfährt mit dem Fahrrad jeden einzelnen Kilometer, den man zurücklegt. Im wahrsten Sinne des Wortes. Du hast keine Karosserie um dich herum, du nimmst jedes Geräusch wahr, jegliche Gerüche, du siehst jedes Tier auf deinem Weg und kommst mit den Einheimischen viel schneller in Kontakt. Wenn du mit einem Pkw durchs Land fährst, dann können die Menschen vielleicht noch kurz dein deutsches Kennzeichen erkennen – und dann bist du auch schon wieder fort. Wenn ich mit meinem vollgepackten Fahrrad eine Rast einlege, kommen sofort Neugierige und wollen wissen, wo ich herkomme und wohin ich will. Je exotischer das Land und je weniger Touristen, desto größer ist die Neugier der Menschen.

 

Wie verständigst du dich mit den Einheimischen?

Kurz nach der Schule war mein Englisch eine Katastrophe. Doch durch das Reisen und den anderthalb Jahren in Australien spreche ich mittlerweile nicht nur fließend Englisch, sondern auch „Hand und Fuß“ (lacht). Es überrascht, wie gut man auch ohne ein Wort zu sprechen kommunizieren kann. Zudem vereinfachen Smartphones heute vieles. Auf meiner letzten Tour war ich unter anderem in Serbien unterwegs. Da kam ein Mann, etwa Anfang 70, auf mich zu, holte sein Handy raus und nutzte das Übersetzungsprogramm, um sich mit mir eine halbe Stunde zu unterhalten.

 

Welches Fahrrad bist du bei deiner ersten Reise gefahren?

Mein allererstes Rad kaufte ich mir auf der dreijährigen Weltreise in Indien. Ich hatte damals noch keine Ahnung von Fahrrädern und wollte mir eines holen, das jeder Inder fährt. Meine Überlegung war, dass es dadurch leicht sein würde, dieses überall reparieren zu können. Das Fahrrad hatte nur einen Gang, Stempelbremsen, die über eine Stange und nicht über einen Kabelzug funktionieren, und der Rahmen war aus Stahl. Das Rad wog ohne Gepäck knapp 25 Kilogramm. Mit dem Ding bin ich in fünf Monaten 2.500 Kilometer geradelt. Ich schaffte an einem Tag 35 Kilometer und hatte beinahe täglich einen platten Reifen. Trotzdem war ich begeistert – und so steigerte sich die Vorliebe für das Radfahren. In all den Jahren nutzte ich auf den Reisen vier Räder, besitze aber insgesamt acht. Andere sammeln Autos, ich sammle Fahrräder.   

 

Andere sammeln Autos, ich sammle Fahrräder.

 

Mittlerweile reist du mit dem E-Bike. Wieso?

2011 erkannte ich, dass E-Bikes das neue große Ding auf dem Fahrradmarkt sein werden. Ich bin sehr neugierig, was neue Themen angeht und wollte einer der Ersten sein, der etwas zu E-Bikes erzählen hat. Mittlerweile haben wir das Jahr 2020. Kürzlich besuchte ich eine Fahrradmesse in Hannover. 95 Prozent der ausgestellten Räder hatten einen Motor. Ich fahre ein E-Trekkingbike, das sich jeder im Laden kaufen kann.

 

Reisen mit einem Fahrradmotor – das klingt wenig anstrengend.

Der Motor funktioniert nicht wie bei einem Mofa, sondern dient nur zur Unterstützung des Fahrers. Man sitzt nicht auf dem Sattel und kann die Füße hochlegen. Der Motor läuft nur, wenn man auch in die Pedale tritt.

 

Was ist für die Auswahl deines Reiseziels wichtig?

Die Zeit, die mir für eine Tour zur Verfügung steht, spielt eine große Rolle. Dann mein persönliches Interesse, aber auch das öffentliche. Das Reisen ist mein Job. Ich wäge ab, welche Themen hinsichtlich meiner Reiseberichte die Leute interessieren könnten. Würde ich mit dem Fahrrad beispielsweise in die Antarktis fahren, wird die Masse das zwar als interessante, beknackte Idee sehen, doch das Interesse im Sinne eines Nachahmereffekts wäre gering. Momentan ist der Vortrag über meine Deutschlandtour der meistbesuchte.

Das Fahrradfahren ist bei dir nur Teil eines Ganzen. Wie lange brauchst du bis zum Abschluss eines Projekts?

Von der Idee bis zum Reisebericht dauert es etwa anderthalb Jahre. Je nach Reiseland beträgt die Vorbereitung drei bis neun Monate, die Fahrt selbst dauert zwischen zwei und sechs Monate, die Nachbearbeitung ein halbes Jahr. Im Vorfeld schaue ich mir die Ziele an und kläre eventuelle Visa-Bestimmungen, falls es ins Ausland geht. Ich plane, welchen Weg ich einschlage und kontaktiere Personen vor Ort, die mir Dinge zeigen können. Lasse ich nur die Landschaft an mir vorbeirauschen, habe ich zu wenig, das ich meinem Publikum in den Vorträgen vermitteln kann.

 

Wie trittst du in Kontakt mit deinen Reisebegleitungen?

Bei meiner Deutschlandtour beispielsweise habe ich im Vorfeld über meinen Newsletter, meine Homepage und den sozialen Medien einen Aufruf gestartet. Ich bat darum, dass mich Menschen ein Stück lang auf dem Fahrrad begleiten und mir ihre Heimat zeigen. Ich ging davon aus, dass sich vielleicht zehn Interessenten melden würden. Doch ich bekam rund 400 E-Mails. Für 200 Begleiter habe ich mich letztlich entschieden.

 

Hast du noch Kontakt zu einigen deiner Reisebegleiter?

Mit 30 von ihnen bin ich immer noch in regem Austausch. Wenn ich terminlich in deren Gegenden bin, dann treffen wir uns, soweit es möglich ist. Wenn ich beispielsweise in Hamburg auf einer Fahrradmesse bin, dann kommt mich dort eine Familie besuchen, die mich in Kiel begleitet hat. Ich freue mich natürlich, wenn Menschen ein paar Kilometer in Kauf nehmen, um sich mit mir zu treffen.

 

Gab es Kriterien für die Auswahl deiner Mitreisenden?

Gar keine. Die jüngste Begleitung war unter einem Jahr, der älteste Begleiter 75 Jahre alt. Die Mitreisenden waren für die Tagesplanung zuständig und sollten mir das zeigen, was für sie interessant ist. Dementsprechend unterschiedlich waren die Ergebnisse: Manche zeigten mir Museen, wieder andere sind mit mir direkt ins Wirtshaus zum Biertrinken gefahren. Das war unheimlich spannend. Jeden Tag hatte ich einen neuen Menschen vor mir und ich wusste nicht, was mich am nächsten Tag erwarten wird.

 

 

Was muss bei deinen Reisen unbedingt mit ins Gepäck?

Es gilt: Weniger ist mehr. Denn jedes Kilogramm, das ich mitnehme, muss ich auch tragen. Ansonsten habe ich eine Dreier-Regel: Von allen Kleidungsstücken kommen drei Stück mit auf die Reise – drei Shirts, drei Hosen, drei Paar Socken usw. Eine Radlerhose sollte dabei sein, denn Jeans und Unterhosen können schnell zu einem wunden Hintern führen. Wenn ich nicht auf Pensionen angewiesen sein will, dann müssen Zelt, Isomatte und Schlafsack sowie eventuell eine Kochausrüstung zum Equipment gehören. Ich kenne aber auch Leute, die auf einer zweiwöchigen Fahrt nicht mehr brauchen als ihre Fahrradkleidung und eine Kreditkarte. Schlussendlich hängt die Ausrüstung immer vom Menschen und seinen Vorlieben ab.

 

Weniger ist mehr.

 

Wie sieht bei dir ein ganz normaler Tag auf einer Tour aus?

Das kommt immer darauf an, wo ich gerade unterwegs bin und zu welcher Jahreszeit. 2018 war ich zwei Monate auf dem Donauradweg unterwegs und die gefühlte Temperatur lag durchschnittlich bei 35 Grad. Bei dieser Wärme stehe ich früh auf. Zuhause bekommt mich keiner um 6 Uhr aus dem Bett, aber beim Fahrradfahren sind die Morgenstunden am angenehmsten. Ich versuche bis 7 Uhr auf dem Rad zu sein, fahre bis zum Mittag durch und mache, falls es heiß werden sollte, eine längere Mittagspause. Am frühen Nachmittag geht es weiter. Nebenbei filme ich, mache Fotos und treffe mich mit Leuten, die mir etwas zeigen können. Abends wird dann meistens das Datenmaterial der Kameraspeicherkarten kopiert, gesichert und kontrolliert. So ist nach zwölf bis 14 Stunden ein Tag schnell vergangen.

 

Kannst du dir auch einen All-inclusive-Urlaub am Pool vorstellen oder musst du immer auf Achse sein?

Ich mache tatsächlich einmal im Jahr für zwei Wochen richtig Urlaub mit meiner Frau. Dann wird am Strand oder im Hotel entspannt. Ich bin niemand, der Hotelaufenthalte oder das Reisen all-inclusive verteufelt. Das Fahrrad nehme ich zwar auf Kurztrips mit, aber meinen Urlaub verbringe ich ohne, da sich die restlichen 50 Wochen bei mir alles um das Zweirad dreht. Den Abstand brauche ich. 

 

Du filmst deine Reisen und veröffentlichst Dokumentationen über deine Touren. Wie bist du zum Filmen gekommen?

Eine Freundin drehte zu Schulzeiten mit ihrer Klasse einen Film. Ich schaute das Making-of des Films und sah, wie viel Spaß die Schüler beim Drehen hatten. Ich entschied, das auch machen zu wollen. Also kaufte ich mir mit 14 Jahren von Omas Weihnachtsgeld eine Filmkamera und begann mit Freunden Quatschvideos zu drehen. Später verband ich meine beiden Leidenschaften, das Filmen und das Reisen, miteinander. Diese Verbindung ist für mich Luxus.

 

Siehst du als Reisejournalist deine Fahrten als Arbeit oder als Urlaub?

Mit dem Begriff „Arbeit“ verbindet man im Allgemeinen einen gewissen Zwang, aber jemand sagte mal: „Wenn du einen Job hast, der dir Spaß macht, musst du nie wieder arbeiten.“ Für mich ist meine Tätigkeit hauptsächlich Arbeit. Aber eine verdammt coole – mein absoluter Traumberuf.

 

Hast du einen bisher unerfüllten Reisewunsch?

Die Wunschliste ist so lang, dass meine Lebenszeit wahrscheinlich nicht ausreicht, diese abzuarbeiten. Für die nächsten Jahre nehme ich mir entweder Touren mit einer kurzen Anfahrt vor oder ich fahre gleich mit dem Rad von Zuhause los. Ganz oben auf der Liste steht jedoch die Panamericana. Diese Route erstreckt sich über den gesamten amerikanischen Kontinent und führt von Alaska nach Feuerland.

 

Du Hanswurst, ich verstehe kein Chinesisch.

 

Gab es auf deinen Fahrradtouren auch Länder, die dich enttäuscht haben?

Nein, ich habe mich überall wohlgefühlt. Das merkwürdigste Land für mich war allerdings China. Ich spreche kein Chinesisch und eigentlich ist es in jedem Land möglich, sich auch ohne Kenntnis der Landessprache zu verständigen, etwa durch Gesten. Nur bei den Chinesen nicht. Die haben sich komplett quergestellt, sei es bei Handzeichen oder beim Nutzen eines kleinen Bilderbuchs, das ich bei mir trug. Das haben sie aus Prinzip nicht verstanden und haben mir einen beschriebenen Zettel gereicht. Die Chinesen dachten, ich könne sie vielleicht akustisch nicht verstehen, aber zumindest ihren Text lesen. Da habe ich dann immer auf Deutsch drauf geschrieben: „Du Hanswurst, ich verstehe kein Chinesisch.“ Das fanden sie sehr amüsant. 

 

Welche Unterschiede gibt es zwischen deinen Fahrten im Ausland und im Inland?      

Wir haben in Deutschland eine unglaublich gute Fahrrad-Infrastruktur. Es ist erschreckend, dass ich vier Jahre und 55.000 gefahrene Kilometer im Ausland gebraucht habe, um das zu erkennen. Ich habe beispielsweise früher lieber einen Kurztrip nach Barcelona unternommen, als mich für drei Tage auf den Sattel zu schwingen, um meine Umgebung zu erkunden. Wir haben 75.000 Kilometer Radfernwege in Deutschland. Mit etwas Organisation ist es möglich, das ganze Land zu bereisen, ohne auf einer Hauptstraße zu fahren. Das ist ein Luxus, über den nicht viele Länder verfügen.

 

Hattest du jemals den Wunsch auszuwandern?

Es gab Momente, in denen ich überlegte, nach Australien zu gehen. Aber ich lebe und arbeite gern in Deutschland. Der Deutsche hat den Ruf, pünktlich und zuverlässig zu sein. Das weiß man zu schätzen, wenn man Jahre im Ausland verbracht hat. Ich habe sechs Monate in einer Strandbar in Thailand gearbeitet, die ein weiterer Deutscher und ich zusammen aufgebaut hatten. Wenn ich dort zehn Arbeitern sagte, es ginge am nächsten Tag um 10 Uhr los, kam der erste um viertel elf und vier gar nicht. In dem Moment habe ich gemerkt: Ich bin viel zu deutsch, so kann ich nicht arbeiten. Keiner meiner 200 deutschen Reisebegleitungen kam dagegen jemals zu spät. So etwas gibt es in keinem anderen Land der Erde (lacht). Allerdings denke ich auch manchmal: Deutsche sollten nicht so verkopft und verbissen sein.

 

Ich lebe und arbeite gern in Deutschland.

 

Du hast unheimlich viel Zeit im Sattel verbracht. Da ist doch bestimmt nicht immer alles glattgelaufen?

Ich bin insgesamt viereinhalb Jahre in über 40 Ländern umhergereist und in der ganzen Zeit bin ich nicht einmal überfallen oder beklaut worden. Man muss aufpassen, dass man als Tourist, der noch grün hinter den Ohren ist, nicht über den Tisch gezogen wird. Aber so etwas gehört auch dazu. Es kann überall etwas passieren, aber ich denke, es ist gefährlicher nachts in gewissen Gebieten Berlins allein unterwegs zu sein als beispielsweise mit dem Fahrrad im ländlichen Russland. Ich fuhr unter anderem durch Nepal, als dort eine Rebellengruppe in den Bergen aktiv war – denen bin ich glücklicherweise nicht begegnet. Andere mussten dieser Gruppe hingegen 30 Euro Weggebühr zahlen.   

 

Welche Lehren konntest du durch deine Reisen für dich ziehen?

Mit Mitte 20, auf der Tour nach Singapur, war ich sieben Monate allein unterwegs und war kurz davor, alles hinzuschmeißen. Die Tour durchzustehen war eine Erfahrung, an der ich gewachsen bin. Es war keiner da, den ich um Hilfe bitten konnte. Meine Probleme musste ich selber lösen. Wenn du so etwas aber schließlich schaffst, merkst du: „Okay, du kannst das alles.“ Das gibt ein großes Selbstvertrauen. 

 

Hattest du je Zweifel, dass dein Plan vom Reisen leben zu können, nicht aufgeht? 

Gerade am Anfang war es für mich schwer. Da ich vom Reisen allein nicht leben kann, entschloss ich mich, Dokumentationen über die Touren zu drehen und Vorträge zu halten. Aber egal wo ich anrief, um einen Vortrag zu organisieren, wurde ich zuerst nach Referenzen gefragt. Da ich noch am Anfang stand, hieß es, ich solle mir eine Reputation in dem Bereich aufbauen und mich noch einmal in drei Jahren melden. Mittlerweile halte ich seit zwölf Jahren Vorträge über meine Reisen, ein Selbstläufer.

 

Man wird nicht jünger – was ist, wenn du irgendwann einmal nicht mehr auf dem Fahrrad unterwegs sein kannst?

Fahrradfahren hält fit und ist keine extreme Belastung. Ein E-Bike ist zudem gelenkschonend. Ich hatte, als ich noch extrem viel auf dem Rad unterwegs war, starke Knieschmerzen. Das ging glücklicherweise zurück. Ich denke, ich werde noch lange mit dem Rad unterwegs sein. Und was die Vortragsbranche angeht: Dort stehen auch 70-Jährige vor ihrem Publikum. Solange man sprechen und aufrecht gehen kann, gibt es keine Altersgrenze.

 

Bisher ist Deutschland für mich das abwechslungsreichste und spannendste Land.

 

Was ist für dich schöner: die weite Welt oder Heimat?

Ich mag beides. Ich sage nicht, dass ich Deutschland nie wieder verlassen werde, denn in mir schlummert das Fernweh. Deutschland hat mich auf meiner Tour durch die Bundesländer am meisten überrascht. Hier hatte ich die geringsten Erwartungen und rechnete nicht damit, etwas Spannendes zu sehen. Was vor der Haustür liegt, scheint manchen wenig interessant – gerade, wenn Flüge in andere Länder so günstig sind. Mein Tipp: die eigene Adresse einmal bei Google Maps eingeben und sich anschauen, was einen in einem Umkreis von 50 Kilometern umgibt. Wer dann loszieht, um die Gegend zu erkunden, wird überrascht sein. Es gibt viel zu entdecken, auch für diejenigen, die ihr ganzes Leben in einer bestimmten Region verbracht haben. Bisher ist Deutschland für mich das abwechslungsreichste und spannendste Land. Es gibt kaum ein anderes Land auf der Welt, das so eine Vielfalt auf so wenig Raum bündelt, sowohl kulturell als auch landschaftlich.

 

Was bedeutet für dich Heimat?

Viele meinen, das sei der Ort, an dem man aufgewachsen ist und wo die eigenen Wurzeln liegen. Ich sehe Heimat mehr als temporären Rückzugs- und Erholungsort. Meine Herkunft liegt in München, aber bei mir geht es schnell: Wenn ich mich drei bis vier Wochen an einem Ort aufhalte, wird dieser zur Heimat. Und das ist seit Sommer 2018 Brandenburg an der Havel.

 

Was war dein erster Eindruck von der Stadt?

Das weiß ich noch ganz genau. Damals, bei meinem ersten Besuch, bin ich über die Jahrtausendbrücke in Richtung Neustädtischer Markt gelaufen. Der Blick in die Hauptstraße war einfach toll. Ein traumhafter Sonnenuntergang, glitzerndes Wasser – der Hammer. Dieses Gefühl hatte ich bisher an keinem weiteren Ort. Ich war zu dem Zeitpunkt auf der Suche nach einem neuen Lebensmittelpunkt und dachte mir, hier könnte ich es aushalten. Es ist alles vorhanden und Brandenburg an der Havel wirklich hübsch.

 

Du siehst also Brandenburg an der Havel nicht nur als Ausgangspunkt für die nächsten Touren?

Wir haben nicht vor, hier so schnell wieder wegzugehen. Wir fühlen uns in der Stadt sehr wohl. Als gebürtiger Münchner genieße ich hier eine Menge Sachen, über die die bayrische Metropole nicht verfügt. Beispielsweise die Natur. Ich finde es toll, nach einer nur fünfminütigen Autofahrt im Wald anzukommen, wo ich eine Stunde lang mit meinem Hund spazieren gehe, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Nicht ständig im Stau stehen, schnell einen Parkplatz finden – die Stadt Brandenburg hat viele Vorteile. Auch die Infrastruktur ist super: Es ist alles da, was man für den Alltag braucht, ohne dass man weitere 1,5 Millionen Menschen um sich hat. Will man in die Großstadt, setzt man sich in den Zug und fährt nach Berlin.

 

Wir fühlen uns in der Stadt sehr wohl.

 

Konntest du dich in den anderthalb Jahren, in denen du nun in der Stadt Brandenburg lebst, bereits einleben?

Ich bin etwa 150 Tage im Jahr beruflich unterwegs und Brandenburg an der Havel ist meine Basis, hier habe ich Ruhe. Ich finde schnell Anschluss und habe mir bereits einen kleinen Freundeskreis aufgebaut. Dieser Kreis ist jedoch, ähnlich wie die Zahl meiner Freunde in München, überschaubar. Ich könnte vielen Freunden aufgrund meines zeitaufwendigen Jobs nicht gerecht werden.

 

Hast du Lieblingsorte in Brandenburg an der Havel?

Der große Pluspunkt der Stadt Brandenburg ist die Umgebung. Ich bin gern auf dem Plauer See und dem Breitlingsee mit dem Kajak unterwegs und zelte dort. Vor dem Umzug dachte ich, im Sommer und im Frühjahr sei es hier bestimmt super – aber auch im Winter ist es total schön. Ein Winterspaziergang am Wasser entlang mit dem Hund – einfach Weltklasse!    

 

Bist du abseits deiner Reisen auch in der Stadt viel mit dem Fahrrad unterwegs?

Ja, ich achte – soweit es geht – darauf, das Auto stehen zu lassen. Brandenburg an der Havel hat eine überschaubare Größe, ich brauche von einem Ende der Stadt und zum anderen eine Dreiviertelstunde. Das ist in München natürlich nicht möglich. Wenn es regnet, mache ich allerdings mit dem Fahrrad einen Bogen um die Innenstadt mit ihrem Kopfsteinpflaster. In Verbindung mit den Straßenbahnschienen ist das ein Fahrrad-Killer. Die Radwege drumherum machen das allerdings wieder wett. In Zeiten, in denen Klimawandel und CO2 große Themen sind, muss eine Infrastruktur geschaffen werden, wo die Leute keine Angst haben sollten, schwer zu stürzen. Das würde mehr Menschen motivieren, das Fahrrad zu nutzen. Ich denke, wir müssen in den nächsten 20 Jahren Konzepte entwickeln, die weniger auf den Autofahrer, sondern mehr auf Fußgänger und Fahrradfahrer ausgelegt sind. Brandenburg an der Havel zeigt ein entsprechendes Potenzial.

 

Gibt es etwas, das du an der Stadt Brandenburg ändern würdest?

Man kann überall Dinge verbessern, aber man darf das Positive nicht aus den Augen verlieren. Es ist typisch deutsch, erst einmal das Negative zu sehen. Da Berlin immer weiter wächst, wird sich auch Brandenburg an der Havel künftig gut entwickeln. Die Zuzügler nach Berlin benötigen Wohnraum. Brandenburg wird dadurch langfristig an Attraktivität gewinnen. Das Stadtbild wandelt sich bereits jetzt kontinuierlich. Überall werden Häuser restauriert und der Tourismus nimmt auch zu. Ich finde es aufregend, einen Ort zu erleben, der seinen zweiten Frühling erfährt. Letzten Sommer kamen Freunde aus Bayern zu Besuch – als sie die Stadt Brandenburg gesehen und erlebten, haben sie verstanden, warum ich hierhergezogen bin.

 

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Alle Fotos: © Maximilian Semsch

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